Tibetische Beschwörung

Von Mönchen, Monasterien und Mantras auf dem Dach der Welt. Eine Reise nach Tibet ist mehr, als ein Urlaub. Es ist eine Reise zu einem außergewöhnlichen Volk, das trotz seiner offiziellen Zugehörigkeit zu China seine Authentizität bewahrt hat. Tibet verstört und versöhnt, lässt einen vor Ehrfurcht innehalten und nachdenklich werden.

„Ein bisschen Moment“, sagt Yun Den, wenn wir Deutschen uns zu ungeduldig in der Höhenluft bewegen. Denn nicht nur die macht einem auf dem Dach der Welt zu schaffen. Unzählige drängelnde chinesische Touristen, das ständige Gefühl der Beobachtung durch Wachposten an jeder Ecke und streng reglementierte Bewohner – In Tibet sind Frieden und Freiheit begrenzt. Und doch erlebt man beides. In einem Gebetssaal voller murmelnder Mönche. An einem heiligen See in 5000 Metern Höhe. Oder in der Stille auf einer Bank vor einem Kloster.

Vom tibetischen Jungen zum chinesischen Mann

Yun Den will Bauer werden. Wie sein Vater. Und sein Großvater. Sie bauten Gerste an und hüteten einige Yaks. Als kleiner Junge besucht Yun Den die Grundschule im nächsten größeren Ort, rund 50 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt. Am Sonntag bringt ihn der Vater mit dem Pferdewagen zu dem Schulinternat, das der Junge besucht. Am Freitag wird er auf die gleiche Weise wieder abgeholt. Doch einmal wartet der Vater mit einem kleinen roten Traktor auf Yun Den. Die rote chinesische Flagge flattert an dem Gefährt. „Die chinesische Regierung ist gut“, sagt der Vater, „sie geben uns Geld für einen neuen Traktor.“ Zehn dieser Zugmaschinen hielten gleichzeitig Einzug im Dorf. „Und Strom haben wir jetzt auch“. Stolz zeigt er Yun Den die neuen Masten und glänzenden Kabel. Gleich Mahnmalen prangen die stählernen Riesen in demidyllischen Tal, blicken auf den plätschernden Gebirgsbach, die grünen Wiesen und grasenden Yaks herab. Die rote Fahne weht auch auf dem Hausdach. Zwischen den vier Wächter-Buddhas und Gebetsfahnen. Vier Jahre lang muss Yun Den die Grundschule besuchen, bevor er auf eine weiterführende Schule nach Beijing geschickt wird. Allen tibetischen Kindern blüht dieses Schicksal. Drei Jahre lang dürfen sie dann nicht nach Hause. Wenn sie als Jugendliche zurückkehren, sind ausden kleinen tibetischenJungen chinesischeMänner geworden.

Reise in den Widerspruch

Heute ist Yun Den Reiseführer. In Beijing hat er ein wenig Deutsch gelernt, ein paar Brocken Englisch hat er sich selbst beigebracht. Am Flughafen von Lhasa holt uns der Tibeter ab. Ohne Führer und Fahrer darf man sich als Tourist in Tibet kaum bewegen. Vor ein paar Stunden sind wir hier gelandet, in der Hauptstadt Tibets, 3650 Meter über dem Meeresspiegel. In diesem Land mit so wechselvoller Geschichte, die bis ins 7. Jahrhundert zurück reicht. Es wurde von Mongolen besetzt, geriet zum Spielball der Interessen Englands und Russlands, zeitweise hatte es nicht einmal festgelegte Landesgrenzen. 1951 marschierten die Chinesen ein und erklärten es 1965 als autonomes Gebiet Tibet zur Verwaltungseinheit der Volksrepublik China. Bis heute ist dieser Status völkerrechtlich umstritten, die Unruhen halten an. Beim Zoll ist Geduld gefragt. Als eine der ersten ausländischen Gruppen nach der Schließung Tibets im letzten Jahr versuchen wir eine Einreisegenehmigung zu bekommen. Mindestens fünf aus einem gleichen Land müssten wir sein, heißt es. Wir sind nur zu Viert. Kopfschütteln bei den chinesischen Zöllnern. Das Gepäck wird mit penetranter Genauigkeit durchsucht, jedes Buch durchgeblättert – eine Abbildung des Dalai Lamas, ja allein die Aufführung des Namens im Inhaltsverzeichnis reicht, dass die Literatur konfisziert wird. Doch ich wollte nachTibet. Trotz aller Schwierigkeiten und den Mitteilungen des Auswärtigen Amtes, dass es fast unmöglich sein würde. Die ersten Eindrücke vom höchstgelegenen Land der Erde verzaubern mich unweigerlich. Das Licht, das alle Farben stechend scharf erscheinen lässt. Ungewohnte Geräusche, von Gebetsmühlen und Gongen. Rotegewandete Mönche an jeder Straßenecke und pilgernde Tibeter, die im Uhrzeigersinn um den Jokhang ziehen, sich alle zwei Schritte beim Gebet auf den Boden fallen lassen. Yun Den mag die Chinesen nicht. Daraus macht er keinen Hehl, obwohl ihm jegliche antichinesischen Aussagen untersagt sind. „Wenn mich erwisch, Lizenz für Guide weg“, grinst er, „nix sagen also, gut?“ Eine Reise durch Tibet ist eine Reise der widersprüchlichsten Gefühle. Mit subtiler Präzision treibt die chinesische Regierung den Umdenkungsprozess voran, verdrängen chinesische Schriftzeichen, Gebäude und Verbote das alte Tibet. Die meisten würden dies aber gar nicht bemerken, sagt Yun Den. Zum Bild gehören auch bewaffnete Wachposten deren ständiger Kontrolle sich auch Touristen unterwerfen müssen. Als ich in Ganden meinen Fotoapparat zücke, steht sofort chinesische Miliz neben mir und möchte, dass ich ihnen meine letzten Bilder zeige. Wären sie darauf zu sehen gewesen, hätte ich meine Kamera gesehen. Die rote Staatsmacht sorgt für eine gewisse Paranoia. Auch das ist Tibet.

„Om mani padme hum“

Die Luft ist benebelt vom Qualm der unzähligen brennenden Butterkerzen. Wir sind auf 4200 Metern Höhe, das Atmen fällt schwer. Murmelnd lesen die Mönche in ihren Gebetsbüchern. In einer Ecke schlägt ein rotgewandeter Greis monotonauf einen Gong. Verweilt man hier, ziehen einen die Schwingungen und die rauchgeschwängerte Luft schnell in den Bann und ein fast medialer Zustand stellt sich ein. „Om mani padme hum“ – Oh du Juwel in der Lotusblüte. Immer wieder begegnen einem die Worte: auf den aufgeschichteten Steinen in den Bergen, den Gebetsfahnen, in den Gebetsmühlen. Auf diese Weise werden Sie zum Himmel gesendet, sollen die eigene Verwandlung in einen reinen Körper, eine reine Rede und ein reines Bewusstsein unterstützen. Beim Austreten in das grelle Licht brauche ich kurz, um wieder in die Gegenwart zu finden. Ein Mönch sitzt auf einer Mauer, eine kleine Katze auf dem Schoß. Er weist mich an, mich zu ihm zu setzen. Beide streicheln wir das Tierchen, Worte fallen nicht. Auf einmal entdeckt er an meinem Rucksack ein kleines Holzkreuz,nimmt es in die Hand, betrachtet es. Ich mache es ab, lege es ihm in die Hand, nicke und lächle ihm zu. Er bedeutet mir zu warten, setzt das Kätzchen auf den Boden und verschwindet. Kurze Zeit später ist er wieder da. Mit einer Hand voll getrockneter Aprikosen, die er mir übergibt. Auch das ist Tibet. Yun Den verabschiedet sich von mir. Eine dreiwöchige Tour liegt hinter unserer kleinen Reisegruppe. Während wir auf die Grenze zumarschieren – er darf uns natürlich nicht begleiten – schaue ich noch einmal um. Doch Yun Den hat sich schon umgedreht. Er ist auf dem Weg zurück in sein Land, das eigentlich gar nicht mehr seines ist.